Die Auswirkungen von Orbán haben sich bereits über die Grenzen Ungarns hinweg ausgebreitet
Quelle: http://www.criticatac.ro/lefteast/jozsef-borocz-orbans-effects-have-already-extended-beyond-the-borders-of-hungary/
József Böröcz: “Die Auswirkungen von Orbán haben sich bereits
über die Grenzen Ungarns hinweg ausgebreitet“
9.4.2018
Von József Böröcz
Anmerkungen der Herausgeberinnen von LeftEast:
Dieses Interview von Àngel Ferrero mit dem Soziologen József Böröcz von der
Rutgers Universität wurde von der Zeitung El Salto geführt und erschien zuerst
in Spanien am 7.4.2018. LeftEast druckt das englische Original mit der
freundlichen Erlaubnis des Autors nach.
1. Nach
den Umfragen wird Viktor Orbáns Fidesz die kommenden Wahlen in Ungarn mit bis
zu 49% der Stimmen gewinnen, gefolgt von der MSZP (Sozialdemokraten) mit 12%
und Jobbik (rechtsaußen) mit 17%. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für den
Erfolg und die Popularität von Fidesz?
Ich möchte mich jetzt nicht zu sehr mit den
Untersuchungsmethoden beschäftigen, aber wir müssen uns daran erinnern, dass es
äußerst schwierig ist, zukünftige Wahlergebnisse aus Umfragedaten zu lesen –
aus einer Menge Gründe, u.a. beispielsweise 1.) die Tatsache, dass es unmöglich
ist, Umfragen so zu gestalten, dass sie Wahlen simulieren, 2.) kann in der
Politik während der Zeit zwischen den Umfragen und Wahlen viel passieren, vor
allem in einer Gesellschaft, die so hysterisch ist wie heute Ungarn, und 3.)
sind die meisten Gesellschaften berüchtigt für ihre Vorliebe,
Meinungsforscherinnen anhand der eigenen Präferenzen falsch zu interpretieren.
Die letzte größere Zwischenwahl in einer kleinen Stadt in Südungarn zeigte
beispielsweise ein Ergebnis, das völlig anders ausfiel als die meisten
Umfrageergebnisse. Das stimmt vor allem knapp vor den „echten“ Wahlergebnissen.
Allgemeiner ausgedrückt ist der Erfolg von
Fidesz teilweise ein Produkt des spektakulären Versagens des neoliberalen
Projekts, das die meiste Zeit der nach-staatssozialistischen Politik in Ungarn
auszeichnete, ehe Fidesz 2010 an die Macht kam. Während die neoliberalen
Politikerinnen in schmucken bestimmten Ausdrücken versprachen, praktisch ein
„Aufholen zu Westeuropa“ versprachen, ist recht offensichtlich, dass nichts
davon geschah während der Generation seit dem Regimewechsel vor 29 Jahren.
Tatsächlich machte Ungarn, wie der Großteil des ehemaligen sozialistischen
Teils von Europa einen schlimmen ökonomischen Kollaps durch und hat immer noch
nicht seine globale Position zurück erlangt, nichtmal die, auf der es sich 1989
befunden hat.
Weiters ist den meisten Ungarinnen klar, dass
ihre Wirtschaft sich in einem Zustand extremer Abhängigkeit von außen befindet
– ein erstaunlicher Prozentsatz des ungarischen Bruttosozialprodukts wird von
einigen wenigen multinationalen Unternehmen geschaffen, die in der Europäischen
Union angesiedelt sind und das Land in eine Wirtschaft im „Maquiladora“-Stil
verwandelt haben, nicht unähnlich einigen Teilen Lateinamerikas vor einer
Generation. Fügen wir dem die verblüffende, auf Krediten in anderen Währungen
beruhende Zinsenkatastrophe hinzu, die ungefähr ein Drittel der Bevölkerung zur
Zeit des Zusammenbruchs der letzten neoliberalen Regierung 2010 betroffen hat –
dann haben wir einen fruchtbaren Boden für eine rechte, populistische
Explosion.
Und genau das ist passiert. Unter der Führung
ihres populistischen Führers gelang es Fidesz, all diese Frustration und den
Zorn in eine extrem nationalistische, vulgär antieuropäische Richtung zu
lenken. Trotz der offensichtlichen Anzeichen einer multiplen, kaskadisch
aufgebauten Krise – d.h. den Kollaps des nationalen Gesundheitssystems, den
atemberaubend schamlosen Fällen von Korruption etc. – idolisiert ein Großteil
der Bevölkerung nach wie vor Viktor Orbán und seine Politik.
2.
Unlängst stand in einem Artikel des Guardian, verfasst von Cas Mudde, über eine
“taktische Allianz zwischen Liberalen und Jobbik”, um Orbán loszuwerden. Meiner
Meinung nach wäre eine solche Plattform recht ähnlich der Koalition, die 2014
in der Ukraine Viktor Janukowitsch entmachtet hat. Aber kann so ein Manöver in
Ungarn erfolgreich sein? Und könnte es noch dazu von äußeren Kräften angetrieben
werden, die gegen Orbán sind?
Alles ist möglich. Ich weiß nicht wirklich
Etwas über eine Einmischung von “äußeren Kräften” – obwohl eine Untersuchung
der Frage des geopolitischen cui prodest[1] leicht
in die Richtung einiger offensichtlicher Kandidaten weisen würde – ich kann
also nur sagen, dass nach Meinung der Öffentlichkeit in Ungarn feststeht, dass
diese Idee am lautesten diese intellektuellen Eliten vortragen, die in den
letzten drei Jahrzehnten am engsten mit einer neoliberalen Position assoziiert
wurden. Ihr Argument lautet, dass „die wichtigste Aufgabe im Moment zu jedem
Preis die Entfernung von Orbán ist.“ Nimmt man den letzten (scheinbar
rhetorischen) Punkt wörtlich, argumentieren sie vor allem in ihren
superwichtigen Facebook-Konversationen, „weil der neonazistischen Opposition
unmöglich ist, das ‚Orbán-Regime’ zu stürzen“, müssten diese „akzeptablen“
Parteien einen historischen Wahlkompromiss mit der extremen Rechten in der
heutigen ungarischen Politik eingehen. Das erinnert mich daran, dass das nicht
wirklich neu ist: Historisch haben wir Beispiele einer seltsamen Hochzeit
zwischen neoliberaler und rechtsextremer Politik erlebt, z.B. im Fall von Chile
unter Pinochet.
Wenn jemand darauf hinweist, dass eine
Entfernung von Orbán der noch extremeren Rechten dienen würde, dass das einer
„Neutralisierung“ einer konventionellen Bombe durch eine Atombombe gleichen
würde, lautet die Standardantwort, dass wer immer unglücklich darüber ist, dass
die neoliberale Mitte der extremen Rechten an die Macht verhilft, „die
Wiederwahl der Regierung Orbán unterstützt“. Damit schließt jedes Gespräch.
Angesichts der unlängsten Auftritte der rechtsextremen
Partei in der ungarischen Politik, von ihrer offen antisemitischen Rhetorik bis
zu ihrer Rolle bei der Schaffung eines ideologischen und politischen Klimas,
dass zu den rassistischen Morden an ungarischen Roma geführt hat, kann man nur
feststellen, dass die ungarischen Wählerinnen vor geradezu unmöglichen
Auswahlmöglichkeiten bei der nächsten Wahl stehen.
3. Was
erwartet Ungarn nach einem möglichen Erdrutschsieg von Orbáns Fidesz?
Um diese Frage beantworten zu können, müsste
ich zwei weitere Details kennen. Erstens, wird Fidesz eine Zweidrittelmehrheit
erreichen? Und zweitens, wenn nicht, würde eine mögliche Koalition mit Jobbik
(der rechtsextremen Partei) so eine Mehrheit ermöglichen? Ist die Antwort auf
eine dieser Fragen „ja“, dann bedeutet das, dass die neue Regierung auch die
Verfassung ändern kann. Orbán hat das in seiner ersten vierjährigen Amtszeit
bereits fünf oder sechsmal gemacht. Er hat auch darauf verwiesen, welche
Änderungen er in den nächsten Jahren vorhat, darunter die Entfernung der – zur
Zeit direkt gewählten – Bürgermeisterinnen in den Klein- und mittleren Städten
des Landes und ihre Ersetzung durch zentral ernannte Gouverneure. In dieser
Situation könnten nur noch in Budapest und vielleicht fünf oder sechs weiteren
Großstädten die Bürgermeisterinnen direkt gewählt werden. Eine Anzahl ähnlicher
antidemokratischer, anti-Graswurzel, immer offener faschistischer und
quasi-faschistischer Schritte sind zu erwarten. (Die Bedeutung der
Bürgermeisterinnen liegt darin, dass es auf lokaler Ebene eine Menge Mitglieder
der Oppositionsparteien gibt. Mit so einer Verfassungsänderung würden sie
praktisch eliminiert. Weiters spielen die Bürgermeisterinnen eine wichtige
Rolle bei der Umsetzung von Orbáns immigrantinnenfeindlicher,
flüchtlingsfeindlicher Politik, und sie spielen eine Schlüsselrolle bei
Entscheidungen betreffend Ausschreibungen für öffentliche Arbeiten, beim Verrechnungsmechanismus
von EU-Subventionen, die einen wichtigen Mechanismus, Kapital für das heutige
Regime in Ungarn zu lukrieren.)
4. Sie
haben das Konzept des “illiberalen” Staates, das auf Ungarn angewandt wird, als
unbestimmt und Osteuropäerinnen diskriminierend kritisiert. Warum? Und können
Sie das genauer beschreiben?
Niemand bezweifelt ernsthaft, dass das
politische und das Rechtssystem in Ungarn (wie in einer Reihe anderer Länder im
früher staatssozialistischen Teil Europas) “ausgehöhlt” worden sind. Sie
beschränken sich auf ihre formaldemokratischen Funktionen (d.h. es werden
Wahlen abgehalten, im Parlament werden Gesetze verabschiedet, per Mehrheitsentscheid
etc.), aber ihr Zustand wurde von den brillanten – obwohl moralisch äußerst
fragwürdigen – rechtlichen und anderen technischen Experten um die herrschende
Partei umgewandelt, um sicher zu stellen, dass es immer schwieriger wird, die
herrschende Partei von der Macht abzuwählen, dass es ernste Probleme mit der
Aufrechterhaltung des Rechts gibt, wenn regimetreue Täter involviert sind. Es
gibt auch weitgehend tolerierte, offene Verletzungen des Prinzips der
Gleichheit vor dem Gesetz und so weiter. Anders gesagt, Orbán hat ein
politisches System geschaffen, dass der herrschenden Partei extreme Vorteile
verschafft, wie auch den Expertinnen und Intellektuellen, die sie umgeben in
der Konkurrenz um Platz in den Medien. Es ist schlichtweg unmöglich, sich an
der kleinsten “linken”, kritischen Konversation über Politik in der ungarischen
„Öffentlichen Sphäre“ zu beteiligen – ohne irgendjemand, der nicht Zensoren,
Kommissare oder andere derartige unterdrückerische institutionelle Regelungen.
Ich habe ein Problem mit den herablassenden
kulturellen Implikationen des Begriffs „illiberale“ Politik. Das ist Begriff,
den Orbán selbst verwendet hat, um seine eigene politische Marke zu beschreiben
(tatsächlich war der Begriff, den er verwendet hat, „illiberale Demokratie“ –
eine nette, spannungsgeladene, sich selbst völlig widersprechende Bezeichnung) in
einer Rede zur „Lage der Nation“, die er bei einem Rockkonzert-mit-nationalistischer-Party
gehalten hat, die jedes Jahr auf einem Feld am Rand eines Erholungsortes in
Nordrumänien gehalten hat. Er lieh ihn sich aus dem westeuropäischen Gebrauch
aus, gewohnheitsmäßige Schlamperei, die solche Anleihen auszeichnen.
Wenn dieser Begriff in Westeuropa oder
Nordamerika verwendet wird, um die ungarische, die polnische oder russische
politische Landschaft zu beschreiben, dann hat diese Verwendung einen
bestimmten, klar erkennbaren Ton, wird eine Sprache heruntermachender Macht.
Erstens handelt es sich um ein extrem
schablonenhaftes Statement über das gesamte Feld der Politik im
osteuropäischen, ehemals staatssozialistischen Teil der Welt. Das ist
offensichtlich unfair gegenüber den Aktivistinnen, NGO-Mitarbeiterinnen, den
Freiwilligen, den sozialen Unternehmen etc., die Tag und Nacht daran arbeiten,
die Dinge weniger undemokratisch, mehr egalitär usw. zu machen, in ihren
eigenen Gesellschaften.
Die zweite – meiner Meinung nach nicht
wünschenswerte – Auswirkung des Gebrauchs dieses Begriffs ist, dass er
eindeutig der “Weißwaschung” der Gesellschaften “im Westen” dient. Er
verunmöglicht es beispielsweise, auf erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen der
Regierung Orbán und nicht nur, sagen wir, der politischen Situation in Russland
oder der Türkei (diese Vergleiche kommen oft) hinzuweisen, sondern auch mit den
kürzlich stattgefundenen politischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten,
Frankreich, Österreich, Italien, Deutschland etc.
5.
“Illiberal” oder nicht, es gibt einen steigenden Trend zu rechtem Populismus
(oder nationalistischem Konvervativismus) in Europa. Könnte man Orbáns
„Illiberalismus“ als Vorprescher der Politik dieser Parteien begreifen?
Erstens und vor allem folgt Orbán in vielerlei
Hinsicht den westeuropäischen Mustern in der Weise, dass westlicheuropäischer
Rassismus, Nationalismus und die überwiegend rechte Politik eindeutig die
direkte, vollkommene Quelle der Inspiration und der spezifischen Ideen für
osteuropäischen Nationalismus/Rassismus/antidemokratische Politik und so weiter
sind. Von Westeuropa haben historisch Osteuropäer gelernt, nationalistisch,
rassistisch und antidemokratisch zu sein. Das ist Teil des intellektuellen
Einflusses der westeuropäischen politischen Kultur auf die osteuropäischen
Gesellschaften. Letztere begreift das als Teil der „europäischen Tradition“ –
und natürlich sehen sie sich selbst als hingebungsvolle Anhänger der
„europäischen Tradition“. Die osteuropäischen Gesellschaften sind stark darin,
die selbstsüchtigen, konfliktbeladenen Auswirkungen dieser Tradition auf das
heutige Westeuropa und die Welt zu ignorieren.
Andererseits ist Orbán selbstverständlich ein
Vorprescher in dem Sinn, dass Ungarn mit seiner Unterstützung dieser Politik
weiter nach rechts „gelaufen“ ist als jedes andere EU-Mitglied zur Zeit,
ausgenommen möglicherweise Polen. Anderseits ist klar, dass jene Teile des
westeuropäischen Großen Kapitals, die in Ungarn präsent sind, Orbán in seiner
Niedriglohn-, strikt „Disziplin und Unterdrückung“-mäßigen Politik freudig
erregt unterstützen. Diese stellt eine scheinbar unerschöpfliche Versorgung mit
billiger, regulierter und noch dazu gut ausgebildeter Arbeitskraft bereit,
sowohl für die westeuropäischen Unternehmer in Ungarn als auch zunehmend in
Form migrantischer Arbeit, die Ungarn in Richtung Westeuropa verlässt, und die
tatsächlich die relativen Errungenschaften der westeuropäischen
Arbeiterinnenklassen unterläuft.
Orbán stellt eine echte Herausforderung dar
für den westeuropäischen Status Quo, weil er den Mittelpunkt “akzeptabler”
Politik nach weit rechts rückt. Er hat auch ein bemerkenswert klar
artikuliertes, pro-Integration, anti-überstaatliches, entschieden antiföderales
Modell für die Europäische Union. Seine Parole eines „Europa der Nationen“ hat
bereits viele interessierte Zuhörer in der gesamten Europäischen Union
gefunden. Mit dem Brexit wird Orbán erheblich wichtiger werden als ein
Schlüsselbefürworter dieses Modells für die EU. Ich möchte sogar so weit gehen
zu meinen, dass der erstaunliche, nahezu völlige Gleichschritt, in dem die
Nachfolgestaaten des früheren Habsburgerreiches und seiner unmittelbaren
Nachbarn nach rechts gehen, auch etwas zu tun haben könnte (offenkundig über
die und jenseits Lokalgeschichte hinaus etc.) mit der Anfälligkeit eines recht
großen Teils der Gesellschaften Osteuropas auf den entschieden
proto-faschistischen Zug, für den die Politik Orbáns – anscheinend recht
erfolgreich – steht. Mit anderen Worten, die Auswirkungen Orbáns haben sich bereits
über Ungarn hinaus verbreitet.
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